Dietrich Machmer:
Schonhaltungen, Teil 1: Mein Onkel

Er: Schon während meiner Schulzeit begann ich, Pausen als Lebensinhalt zu schätzen.
Ich: Aber tun das nicht alle Kinder? Pausen und Ferien, vor allem die Sommerferien.
Er: Schon, aber ich habe Pausen von Anfang an sehr ernstgenommen. Während die anderen Kinder sich die Köpfe oder sonst was heißgeschrien haben, oder pausenlos über den Schulhof gerannt sind, habe ich in den Pausen einfach nichts gemacht.
Ich: Nichts? Einfach nur Pause? Und da war dir nie langweilig?
Er: Schon. Aber das war mir nie wichtig. Es geht um etwas ganz anderes.
Ich: Lass mich raten: du hast als Kind schon damit begonnen, zu meditieren, deinen Geist zu leeren, die Leerheit der Dinge zu erkennen.
Er: Schon auch. Allerdings habe ich das erst viel später verstanden, wenn überhaupt.
Ich: Also gut: du warst faul!
Er: Nein! Natürlich ist es mir oft schwergefallen, nicht hinter meinen Freunden herzulaufen, sondern still in der Ecke zu stehen, nichts zu tun, auf niemanden zu warten.
Ich: Und wenn jemand zu dir kam und dich gefragt hat, was du da machst, was hast du dann geantwortet?
Er: Nichts. Ich wusste ja zunächst selbst nicht so genau, wie ich es nennen sollte. Also habe ich nichts weiter gesagt, und irgendwann hat es niemanden mehr interessiert. Erst Jahre später habe ich realisiert, worum es eigentlich geht.
Ich: Und zwar?
Er: Schonung! Das habe ich irgendwann im Herbst verstanden, als ich mal wieder, bis in die abgelegensten Fasern meines Körpers ausgeruht und entspannt, aus meinem Sommerloch gekrochen kam, und in die wettergegerbten, faltigen Gesichter meiner sommeraktiven Freunde geblickt habe. Da war mir klar: ich muss mich schonen.
Ich: Schonen wofür? Die Pausen, die Ferien, der Sommer, das ist doch die beste Zeit, in der am meisten passiert, in der man richtig was erleben kann. Wofür willst du dich denn ausgerechnet dann schonen?
Er: Ich will bereit sein. Ich weiß, ich werde bereit sein. Ich bin es schon!
Ich: Wofür?
Er: Glaub mir, da kommt noch einiges auf uns zu!

Letzten Sommer ist mein Onkel gestorben. Da alle im Urlaub waren, hat ihn lange niemand vermisst. Als man ihn endlich fand, saß er mit geballten Fäusten und entschlossenem Gesicht in seinem Fernsehsessel, als wollte er gerade aufstehen.